Wenn ich eine Kurzgeschichte von Neil Gaiman lese, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich mag sie sehr oder ich finde sie sterbenslangweilig.
Als ich „The Man Who Forgot Ray Bradbury“ gehört habe, wusste ich daher nicht, was passieren würde. Wie sich herausgestellt hat, mag ich die Geschichte sehr. Lasst mich erklären warum:
Ich lese berufsbedingt eine ganze Menge Texte, die … nicht so sonderlich gut sind. Texte, zu denen ich Gutachten schreiben muss oder die ich lektorieren muss oder aus denen ich einfach die Informationen herausfiltern muss, die ich brauche. Wenn man das längere Zeit macht, fängt man manchmal an zu vergessen, was man mit Sprache alles anstellen kann. Dass es möglich ist, Texte nicht nur so zu schreiben, dass sie auf flüssig lesbare, unterhaltsame Art und Weise etwas aussagen, sondern auch so, dass sie einen packen und schütteln und sich einem ins Gedächtnis brennen.
„The Man Who Forgot Ray Bradbury“ hat mich daran erinnert. Lasst mich erklären wie:
Diese Geschichte tut eine Sache, die man angeblich nie tun darf. Sie springt scheinbar willkürlich von Thema zu Thema. In dem meisten Fällen ist so etwas tatsächlich unglaublich entnervend. Allerdings nicht, wenn man es richtig und vor allem so macht, dass es nur so aussieht, als würde es willkürlich passieren. Wenn man es so macht, dass die Geschichte in Wirklichkeit eher Schleifen zieht, um mehr Schwung zu holen, anstatt zu springen.
Und zwar so:
Relativ am Anfang zählt der Erzähler Dinge auf, die ihm abhanden gekommen sind. Ein Radio, ein Wörterbuch, Kerzen, seine Schuhe. Und über das Wörterbuch sagt er: „I went to the shelve and the dictionary was gone. Just a dictionary sized hole, to show where my dictionary wasn’t.“
Dann wechselt er mehrmals das Thema.
Und dann kommt das:
Icarus. It’s not as if I’ve forgotten all names. I remember Icarus. He flew to close to the sun. In the stories that was worth it. Always worth it to have tried, even if you fail, even if you fall like a meteor forever. Better to have flamed in the darkness, to have inspired others, to have lived than to have sat in the darkness cursing the people, who borrowed but did not return your candles.
Da ist die erste Schleife.
Viel viel später kommt die zweite Schleife:
as those who would take the words, all the words, dictionaries full of words, radios full of words
Und die dritte Schleife:
Who you are is gone. I wait for it to return to me, just as I waited for my dictionary, for my radio or for my boots, and with just as meager a result. All I have left is the space in my mind, where you used to be.
Und die vierte:
Have I lost an author just as once I lost a dictionary?
Es gibt mehrere solcher Dinge, die sich durch den ganzen Text ziehen und sich miteinander verweben und irgendwie alle ein großes Thema bilden.
Und das macht diese Geschichte so schön und so viel mehr als einfach nur flüssig lesbar und unterhaltsam.
Ich habe mir die Geschichte gerade angehört. Sehr schön!
Und die Stimme von Neil Gaiman ist klasse. Und irgendwie befällt mich der Gedanke, noch mal meine alten Ray Bradburys rauszuholen und sie erneut zu lesen.
Das ist der Moment, wo ich wünschte, ich könnte besseres Englisch. Um diese Feinheiten besser erfühlen zu können.
Also, diese Schleifen sind rein inhaltlich. Irgendwelche sprachlichen Feinheiten finde ich in englischen Texten auch eher selten. Hier geht’s eher darum, wann welche Details in welchen Zusammenhängen erwähnt werden.